top of page

Gedanken bei der Betrachtung von Ulrike Trugers Steinen

Von Uwe Arnold

Ich habe keine Erfahrung mit Meißel und Hammer, nur Vorstellungen. Ich sehe die Steinbilder äußerlich, und ihre Äußerlichkeit ist unendlich, auch ihr Inneres ist äußerlich. Wenn eine Säge durch sie hindurchfährt, wo immer, werden nur Oberflächen freigelegt. Etwas ist auf undurchschaute Weise innerlich und äußerlich an allen Oberflächen spürbar: die Härte des Steins, sein Widerstand, mit großer Anstrengung und Aggressivität brechbar. Das ist ein Stein, ein Problem der Materie.
Aus dem Stein ist eine Form gehauen, bedeckt mit steinernen Narben, Meißelspuren, eine Einbildung in den Stein, gleichwohl aus ihm gebildet, eine Ausgeburt des Steines, der ein Inneres eingebildet ist, über seine Härte hinweg, eine Gestalt von monadischer Unverwechselbarkeit, die Leben oder Seele in sich hat oder wenigstens gehabt hat, tot vielleicht, aber tot nach einem Leben. Die Gestalt ist nicht gewiß, sie läßt die Weichheit des Lebendigen im harten Stein gerade ahnen, und ihre Existenz ist jenseits von Tod oder Leben, wie die von Göttern.
Aber sie ist unwiderruflich aus Stein, aus diesem Stein. Materie? Ja, aber eine, die selbst schon geformt ist, um aus sich Gestalten hauen, brechen, schlagen zu lassen. Im Steinbruch genau besehen hatte der Stein Unverwechselbarkeit gezeigt, die Sprünge und Brüche, Farben und Einschlüsse seiner Vergangenheit, die er weitergibt an die Gestalt, die aus ihm geschlagen wird. Er ist geformte Materie gewesen, individuelle Matrix, ein Mutterstein, der sich ein Kind entreißen lassen muß, damit es in die Einbildung gerettet werden kann, Stein von seinem Stein, jenseits von Tod oder Leben, mythisch die Steinmutter wie das Kind.
Die Einbildung mit Meißel und Hammer macht sich schuldig. Sie läßt den Stein nicht kreißen und gebären, ist sogar sicher, daß er nicht gebären und sein Kind freigeben kann, daß es aus ihm herausgeschlagen werden muß, wenn es existieren dürfen soll, Der geschlagene Mutterstein kann sich rächen, kann brechen, wo der Meißel nicht will, das Kind zerbrechen, ehe es entstanden ist. Das Schlagen und Hauen wird gehemmt, schließlich ganz unterlassen, als ob eine Mutter um Verzeihung gebeten wird, daß ihr Kind gerettet werden sollte. Die Wunden, die der Meißel geschlagen hat, werden zum Eingeständnis der Schuld, nicht getilgte, nicht geglättete Spuren des waghalsigen Angriffs, und der Mutterstein bleibt bestehen, er besteht die Ausgeburt, die ihn vergessen lassen könnte, und zeigt, daß sie nichts ist ohne ihn. Die Einbildung bleibt unvollkommen, der verschonte Stein wird nicht Bild, verschwindet nicht in ihm, sondern das Bild ist immer nur aus dem Stein, neben ihm, unter ihm, auf ihm, wie ein Kind im ungestalten Schoß seiner namenlos verwundeten Mutter.

28/1/2004

bottom of page